CMD (Craniomandibuläre Dysfunktion) – Wichtige Infos für Patienten
Aus der Naturheilpraxis von René
Gräber
Kauen ist eine einfache Angelegenheit, anscheinend. Wenn man sich das gesamte System rund um den „Kauapparat“
anschaut, dann fällt als Erstes auf, dass die Kiefergelenke die kompliziertesten im ganzen Körper sind. Denn sie
sind in der Lage sich 3-dimensional zu verändern/bewegen. Diese 3-dimensionale Ausrichtung ermöglicht es erst, eine
effiziente Kaubewegung durchzuführen. Aber das Kausystem ist nicht nur „gelenkig“. Es ist darüber hinaus auch noch
überaus kräftig. Das Kausystem kann nämlich bis zu 800 Newton punktuellen Druck generieren. Als Vergleich: 1000
Newton entspricht der Schubkraft von Strahltriebwerken von Flugzeugen und Raketen.
So richtig wird diese Kraft erzeugt in Stresssituationen, wo der Betroffene mit den „Zähnen knirscht“
beziehungsweise sie „zusammenbeißt“. Man sagt ja so schön zu Jemandem, der in einer unangenehmen Situation steckt:
„Beiß´ die Zähne zusammen und dann durch“. Dauerstress mit vermehrtem „auf die Zähne beißen“ resultiert dann mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Abrasionen, also einem abgeriebenen Gebiss und/oder einer sich
verändernden Bisshöhe.
Wenn es dann so weit ist, und die Bisshöhe sich verändert hat, dann kommt es über kurz oder lang zu einem
gestörtem Zusammenspiel von Schädel und Unterkiefer. Schädel = Cranium; Unterkiefer = Mandibula – und schon sind
wir bei einer craniomandibulären Störung oder Dysfunktion (CMD). Es bleibt dann nicht bei einer einfachen Störung.
Vielmehr ergeben sich unter Umständen weitere Folgen für das neuromuskuläre System, das das Zusammenspiel in diesem
Areal koordiniert. Die Symptome, die sich aus dieser Störung ergeben, sind Schmerzen an den Zähnen, an der
Kaumuskulatur, die sich weiter „fortpflanzen“ können in die Bereiche vom gesamten Kopf, den Schultern und bis in
den Rücken. Schmerzen im Kiefergelenk selbst sind nicht selten, aber auch Ohrenschmerzen und sogar Tinnitus.
Aber nicht nur Stress ist die alleinige Ursache für eine solche Fehlentwicklung. Die Fehlstellung von Ober- und
Unterkiefer können auch durch eine fehlerhafte Zahnbehandlung entstehen, wie zum Beispiel durch schlecht angepasste
Kronen oder Brücken, nicht behandelte Zahnfehlstellungen, fehlende Zähne oder falsch behandelte Zahnfüllungen.
Andere, weniger häufige Ursachen sind Schleudertrauma und Verletzungen der Halswirbelsäule.
Symptome, die nicht so recht ins Bild passen, aber dennoch auf einer craniomandibulären Dysfunktion beruhen
können sind Schnarchen, Hüft- und Knieschmerzen, Migräne, Sehstörungen, Stimmungsschwankungen, Depressionen
etc.
Auf der Webseite des CMD-Dachverbands geben die Experten eine schlüssige Erklärung für die Entstehung von
Tinnitus und den Zusammenhang mit chronischem Stress ab:
„Bei 30 Prozent der Tinnitus-Patienten ist eine Rückverlagerung des Unterkiefers alleinige Ursache der
Beschwerden. Ein starker Rückbiss führt zu Kopfvorhaltung und verändert die Position der Halswirbelsäule. Eine
Kopfgelenkblockade kann zu Blockaden im Beckenbereich führen und eine Beinlängendifferenz provozieren.
Störungen wie Schulter-Arm-Syndrome, Ischias- oder Kniebeschwerden stehen häufig im Zusammenhang mit der
Funktionsstörung des Kausystems.
Ursächlich können auch psychische Faktoren eine Rolle spielen, weil chronischer psychischer Stress die
Aktivität der Kau- und Kopfmuskulatur erhöht. Wenn nachts das Bewusstsein ausgeschaltet ist, wird der tägliche
Stress über die ständig aktive Kaumuskulatur mit den Zähnen verarbeitet. Das führt zum Zähneknirschen.“
(http://www.cmd-dachverband.de/)
Ein Wort zur Terminologie
Der Begriff der kraniomandibulären Dysfunktion ist keine Bezeichnung für eine Erkrankung. Vielmehr handelt es
sich hier um einen Überbegriff. Dieser umfasst eine Reihe von Störungen im Bereich der Kiefergelenke und
-muskulatur, die im biochemischen, psychischen, funktionellen und strukturellen Bereich liegen können. Es handelt
sich hier weniger um eine „Diagnose“ als vielmehr um einen Befund, der „in die Diagnosen Okklusopathie, Myopathie
und Arthropathie spezifiziert werden“ sollte (Kraniomandibuläre Dysfunktion). Laut Wikipedia hat sich der Begriff der kraniomandibulären
Dysfunktion in Deutschland „eingebürgert“, und stellt einen Sammelbegriff für eine Reihe von Beschwerden dar von
Kausystem, kraniovertebrale Dysfunktionen und so weiter.
Klassifikationen und Systeme
Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn bei einer eher unpräzisen Beschreibung einer Erkrankung beziehungsweise
eines Erkrankungskomplexes eine entsprechende tiefer gehende „Beschreibung“ erfolgt, die dem Bedürfnis nach
Klassifizierung gerecht wird. Denn als Diagnose „kraniomandibuläre Dysfunktion“ anzugeben würde alles und gar
nichts bedeuten.
Der Einfachheit halber kopiere ich hier das Klassifikationssystem, welches in Wikipedia (Link siehe oben)
veröffentlicht wurde. Wie in der Schulmedizin üblich, gibt es keinen Konsens bei einer so unübersichtlichen
Angelegenheit, so dass etliche Klassifikationen durch die Weltgeschichte geistern. Die Klassifikation mit der
größten internationalen Verbreitung ist die der Research Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders
(RDC/TMD) aus dem Jahre 1992, die den Komplex in zwei Achsen aufteilt:
ACHSE I
Somatische Diagnosen
Bereich I: Schmerzhafte Beschwerden im Bereich der Kaumuskulatur (vor allem Mundöffner- und
Mundschließermuskeln)
Ia: Myofaszialer Schmerz
Ib: Myofaszialer Schmerz mit eingeschränkter Kieferöffnung
Bereich II: Anteriore Verlagerung des Discus articularis
IIa: Anteriore Diskusverlagerung mit Reposition bei Kieferöffnung
IIb: Anteriore Diskusverlagerung ohne Reposition bei Kieferöffnung, mit eingeschränkter
Kieferöffnung.
IIc: Anteriore Diskusverlagerung ohne Reposition bei Kieferöffnung, ohne eingeschränkte
Kieferöffnung.
Bereich III: Arthralgie, aktivierte Arthrose, Arthrose
IIIa: Arthralgie
IIIb: aktivierte Arthrose vom Kiefergelenk
IIIc: Arthrose des Kiefergelenks
ACHSE II
Schmerzbezogene psychosoziale Diagnostik
Schmerzbezogene Beeinträchtigungen täglicher Aktivitäten
Depressive Verstimmung
Unspezifische somatische Symptome
Als Patient findet man sich dann auf einer x-y-Achse wieder, auf der die Symptome aufgetragen werden und dann
geschaut wird, ob man mehr zu x oder zu y neigt.
Und weil es so viel Spaß macht, in der Schulmedizin zu definieren, klassifizieren und sondieren (man verwechselt
dies häufig mit Wissenschaft), konnte es auch nicht bei dieser zu „einfachen“ Klassifikation bleiben. Vielmehr gab
es eine Ergänzung, die in Form einer wissenschaftlichen Veröffentlichung verbreitet wurde: Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (DC/TMD) for Clinical and Research
Applications: recommendations of the International RDC/TMD Consortium Network* and Orofacial Pain Special
Interest Group und Expanding the taxonomy of the diagnostic criteria for temporomandibular disorders.
Epidemiologie
Die Epidemiologie der kraniomandibulären Dysfunktion macht da weiter, wo die Klassifikation der Symptome
aufgehört hat. Es bleibt wirr und undurchsichtig. Bei der Durchsicht einiger Quellen gibt es so viele
unterschiedliche Zahlen wie Symptome auf den Achsen.
Wikipedia berichtet von einer Häufigkeit von 8 Prozent der gesamten Bevölkerung, die an CMD leiden. Aber nur 3
Prozent sind behandlungsbedürftig. Der CMD-Dachverband berichtet von 7 Millionen Menschen, die „unter den Folgen
der Fehlfunktion ihres Kiefergelenks“ leiden.
Das wären rund 8,6 Prozent. Beim „Spiegel“ gibt es dann sogar gleich zwei unterschiedliche Zahlen: „Für
Deutschland ging man vor einigen Jahren von rund drei Prozent aus, eine Untersuchung aus Wittenberg kam 2008 auf 16
Prozent“
(spiegel.de/gesundheit/diagnose/craniomandibulaere-dysfunktion-diagnose-und-therapie-bei-cmd-a-977237.hhtml). Wenn
man dann nur die Zahnärzte befragt, dann kommen noch heroischere Daten auf den Tisch. Eine naturheilkundlich
ausgerichtete Webseite berichtet von Hochrechnungen seitens der Zahnmedizin, die 20 Prozent der bundesdeutschen
Bevölkerung mit CMD geschlagen sehen will (heilpraxisnet.de/krankheiten/cranio-mandibulaere-dysfunktion.php).
Diagnose und Behandlung
Bei dieser Vielfalt an Symptomen bietet sich ein interdisziplinäres Vorgehen an. Die meisten Patienten werden
zuerst zum Zahnarzt oder HNO-Arzt gehen, um sich behandeln zu lassen. Aber aufgrund der Vielfalt der Symptome und
der möglichen unterschiedlichen Ursachen sollten Heilpraktiker, Physiotherapeuten oder Osteopathen mit von der
Partie sein. Je nach Diagnose der jeweiligen Ursachen erfolgt dann eine gezielte Therapie, wie zum Beispiel bei
Fehlbiss die Anfertigung einer Funktionsschiene, Korrektur schlecht sitzender Prothesen und so weiter.
Aufgrund der Schmerzen ist oft eine gezielte Schmerztherapie notwendig, wie manuelle Therapien, Akupunktur,
Einsatz von Heilpflanzen, Entspannungsübungen etc. Liegt chronischer Stress als auslösende Ursache dem Leiden
zugrunde, dann gilt es mit den entsprechenden Mitteln, wie Stress-Management, Entspannungsübungen und so weiter,
diesen Stress zu minimieren oder besser gleich zu beseitigen. Der „Spiegel“ meint dazu: „Stress oder
Allgemeinerkrankungen können sich laut Alfons Hugger von der Westdeutschen Kieferklinik an der Universität
Düsseldorf im Kausystem manifestieren: `Wir müssen also mehr beachten als die akute Kau-Problematik.`“.
Fazit
Bei der kraniomandibulären Dysfunktion handelt es sich um ein Krankheitsbild (Befund), das große Ähnlichkeiten
mit einem Chamäleon hat. Es zeichnet sich durch eine Vielfalt an Symptomen aus, die aber ihre Ursachen von „Kopf
bis Fuß“ haben können.
Oft wird ein Zusammenhang mit dem Kiefergelenk übersehen beziehungsweise erst gar nicht in Betracht gezogen. Mit
Rückenschmerzen zum Zahnarzt? Aber ohne diese physiologisch gegebenen Bezüge muss eine Behandlung der
Rückenschmerzen, um bei diesem Beispiel zu bleiben, von nur wenig Erfolg gekrönt sein.
Die Folge ist, dass der Patient den Arzt wechselt, der die gleiche Fehlbehandlung mit anderen Mitteln
durchführt. Der Patient wird zum Ärzteverschleißer, ohne Aussicht auf Heilung. Und wenn alles nicht hilft, dann
erklärt der Arzt seinen hypochondrischen Patienten für psychisch labil = verrückt.
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